Man erreicht Julia Post am Abend am Telefon, im Hintergrund meldet sich von Zeit zu Zeit ihr zehn Monate altes Baby. Ob sie an diesem Tag schon mal eine Pause gemacht habe? Ja, sagt Post, sogar mit richtigem Mittagessen. Seit zwei Jahren sitzt die Grünen-Politikerin, 36, im Bayerischen Landtag. Seit zehn Monaten ist sie Mutter einer Tochter. Und dass man als Erstes die Frage nach der Pause stellt, hat natürlich einen Grund. Mitte September hat Post bei Instagram einen Beitrag veröffentlicht, mit dem sie deutlich mehr Menschen erreicht hat, als sie es sonst mit ihren Beiträgen tut. Knapp 1000 Likes, mehr als 160 Kommentare.
Es ist ein Foto von ihr mit verbundenem Arm und Handgelenk. Ihr Blick ist nachdenklich. Sie habe sich übernommen, schreibt sie. Vor ihr lagen wieder drei 16-Stunden-Tage, die dritte Woche in Folge. Warmes Mittagessen gab’s nie vor 16 Uhr. Immer wieder habe sie „fast Kopfschmerzen“ gehabt, weil sie zu wenig getrunken habe – „schlechte Idee als stillende Mutter“. Dann kam endlich der langersehnte Urlaub. Doch am dritten Tag stürzte sie vom Fahrrad. Keine schweren Verletzungen, trotzdem war erst mal Erholung angesagt. „Unfreiwillig gezwungen zu dem, was ich mir vorher nie erlaubt habe: liegen, essen, lesen, schlafen.“
Und: Zeit, sich einige grundsätzliche Gedanken zu machen zum Hamsterrad in der Politik. Wochenlang sei sie zuvor von Termin zu Termin gehetzt, schreibt sie in ihrem Beitrag bei Instagram. Immer dabei, Mails zu beantworten, Nachrichten zu checken, Ausschusssitzungen vorzubereiten, Fragen ihres Teams zu klären. Auch unterwegs. „Ich habe jede Minute als mobiles Office gebraucht.“ Ein paar Tage habe ihr Mann sie mit dem Baby zum Bus gebracht oder abgeholt. Bis sie gesagt habe: „Bitte mach’ das nicht mehr, ich brauche die Zeit zum Arbeiten.“ Eine Elternzeit für Abgeordnete gibt es nicht. Acht Wochen nach der Geburt ihrer Tochter war Post zurück im Landtag.
Der politische Betrieb ist ein Hamsterrad: Parteitage, Mitgliederversammlungen, lange Sitzungen, oft zu später Stunde. Manchmal frage sie sich: „Was ist das Ziel, warum sitzen wir da?“ Die politischen Strukturen schreckten Ehrenamtliche und grundsätzlich an der Parteiarbeit Interessierte oft ab, sagt Post.
Sie war einige Jahre selbständig, kann einen Vergleich mit der Wirtschaft ziehen. Sie wolle nicht den Staat zum Unternehmen umbauen, „aber in der Wirtschaft wäre klar: Das macht man so nicht, weil es nicht aufs strategische Ziel einzahlt oder das Verhältnis von Kosten und Nutzen nicht stimmt“.
Seit zehn Jahren ist Julia Post politisch aktiv. 2015 trat sie bei den Grünen ein; einige Jahre war sie im Parteivorstand, von 2020 bis 2023 saß sie im Münchner Stadtrat. Sie wolle explizit keine Vereinbarkeitsdebatte führen, sagt sie – all diese Dinge hätte sie vor fünf Jahren auch schon schreiben können, ohne Mutter zu sein. Während ihrer Zeit im Parteivorstand habe sie einmal gemessen, wie viel Zeit in die politische Arbeit floss. Es seien 35 Stunden gewesen, in einer normalen Woche, zusätzlich zu ihrem Job. „Das ist einfach zu viel.“
Ihr geht es um etwas Tiefgreifenderes: Im politischen Betrieb fehle es nicht an Belastbarkeit, sondern an Strukturen, die Pausen, Nachdenken und Visionen überhaupt möglich machten. Unter der Atemlosigkeit leide die Qualität der politischen Antworten auf drängende Fragen. „Politik, die in Kurzfristigkeit, Aktionismus, Selbstbeschäftigung und Ritualen gefangen ist“, schreibt sie in ihrem Instagram-Beitrag, „verliert den Raum, die wirklich großen Fragen unserer Zeit zu beantworten – von Klima über Gerechtigkeit bis Sicherheit.“ Das schwäche letztlich die Demokratie und spiele extremen Kräften in die Hände.
Auch Posts Politiker-Kollege Hans Theiss (CSU) erlebt gerade seine erste Amtszeit als Bundestagsabgeordneter für den Münchner Norden. Man erwischt ihn nach der Generaldebatte zum Haushalt in seinem Berliner Büro am Telefon. Dass er das, was Julia Post widerfahren ist, so nicht kenne, „liegt auch daran, dass ich Vater bin und nicht Mutter“, sagt er. Neun Jahre alt ist seine Tochter. Es seien eben schon Mütter, die vor allem im ersten Lebensjahr ihres Kindes „sich zerreißen und das Gefühl haben, nicht genügen zu können“.
Die sozialen Medien trügen in zweifacher Hinsicht zu einer Verschärfung bei. Informationen flössen rund um die Uhr und pausenlos. Und während Politiker früher darauf angewiesen waren, dass Journalisten sie kontaktieren, könne sich heute jeder selbst über seine eigenen Kanäle äußern.
Theiss sieht das als Chance, weil er so den Bewohnern seines Wahlkreises und auch den Parteifreunden zeigen könne, was er macht. Andererseits erhöhe es den Druck und das Pensum. Die Funktionsweise der sozialen Medien habe sogar einen direkten Einfluss auf seine Arbeit im Bundestag: Er baue mittlerweile in seine Reden oft extra Passagen ein, die sich gut für kurze, prägnante Videos eigneten.
Aber auch sonst sei die Taktung im politischen Betrieb „extrem hoch“, sagt Theiss, 48. Er möge das, für ihn sei es „ein bisschen wie Sport, eine schöne Anstrengung“. Als Arzt sei er das gewohnt, und er fühle sich nicht überlastet. „Aber ich kann mir vorstellen, dass es Leute an ihre Grenzen führt.“ Eine typische Woche bei ihm habe um die 80 Arbeitsstunden; das sei in seiner Zeit vor der Politik in der Klinik auch nicht anders gewesen.
Aber, und hier zeigt sich vielleicht der größte Unterschied zwischen Posts und Theiss’ Sicht der Dinge: Er glaubt auch nicht, dass Politik anders funktionieren kann. Ein Mandat auszuüben sei schließlich ein Privileg, das habe er in Berlin noch einmal ganz deutlich gemerkt.
Er habe sich mitten hineingestürzt in die Politblase, seine Wohnung sei nicht weit vom Reichstag, von Berlin habe er abseits davon noch nichts gesehen. Die Wähler erwarteten zu Recht, dass ihre Abgeordneten sich mit aller Kraft einsetzen. Man tue es freiwillig und kämpfe sehr darum, es tun zu dürfen. Auch deshalb gehöre das alles für ihn dazu: permanente Erreichbarkeit, auch am Wochenende oder an Feiertagen; Präsenz, so viel wie möglich.
In seinen sitzungsfreien Wochen arbeitet der Bundestagsabgeordnete Hans Theiss noch in der Klinik
Natürlich sei Präsenz eine wichtige Währung, sagt Julia Post dazu, aber eben noch keine Leistung an sich. So gehörten zu einem gelungenen Termin ja auch eine gute Vor- und Nachbereitung.
Politik und Demokratie seien eben „wahnsinnig mühsam“, sagt Theiss. Würde man Parteitage nicht am Wochenende, sondern an einem Montag oder Dienstag abhalten, würden sich Ehrenamtliche beschweren, glaubt er. Würde man versuchen, Debatten kürzer zu halten, würden sich Delegierte beklagen, dass die Diskussion abgewürgt werde.
Immer wieder sagt Theiss aber auch das: Er wolle auf keinen Fall dastehen wie „der starke Mann, der einer jungen Mutter erklärt, wie es geht“. Es sei auch eine Typfrage. Jeder müsse selbst herausfinden, wie viel Regenerationszeit er oder sie benötige – bei ihm sei das vielleicht weniger als bei anderen. „Mir kann man Workaholismus vorwerfen“, sagt Theiss. In seinen Nicht-Sitzungswochen arbeitet er noch 20 Prozent in der Klinik, weil es ihm Spaß mache.
Ganz herunterfahren könne er zum Beispiel gar nicht. Auch im Urlaub schalte er das Handy nicht aus, ein gewisses „Grundrauschen“ brauche er. In der zweiten Urlaubswoche melde sich dann regelmäßig die sogenannte Entlastungsdepression: ein Zustand der Leere und Antriebslosigkeit, der auftreten kann, wenn eine schwere Belastung wegfällt, etwa nach einer Prüfung.
Die Atemlosigkeit, die Kurzfristigkeit, die Rituale, der Druck: Sie habe das auf allen politischen Ebenen, die sie bisher kennengelernt hat, gleich erlebt, sagt die Landtagsabgeordnete Julia Post.
Wie erlebt das eine Stadträtin im Münchner Rathaus? Julia Schmitt-Thiel, 47, gehört der SPD-Fraktion an, sie hat ihre erste Amtsperiode im Stadtrat bald hinter sich und stimmt Post in vielem zu. „Mutig und ehrlich“ sei es, was ihre ehemalige Stadtratskollegin mit ihrem Beitrag losgetreten habe, sagt Schmitt-Thiel. Durch die sozialen Medien habe sich das Politikerdasein extrem verändert, das Handy sei abends im Bett mit dabei. Diese Entwicklung könne man nicht zurückdrehen, man müsse lernen, damit umzugehen.
Allerdings glaubt auch Schmitt-Thiel, dass man bei dem Thema die Vereinbarkeits- und damit die Geschlechterfrage nicht ausblenden könne. „Zeitmanagement ist einfacher, wenn man nur einen Partner oder eine Partnerin hat, als wenn noch Kinder im Spiel sind, da passieren eben unvorhergesehene Dinge.“ Sie habe „riesigen Respekt“ vor Frauen, die kleine Kinder haben und in der Politik aktiv sind.
Auch Schmitt-Thiel hat eine Tochter, sie ist zwölf. Die Carearbeit erstreckt sich bei ihr aber mittlerweile auch noch auf eine andere Generation: Sie ist die Pflegeperson für ihre Mutter und deshalb wieder in ihr Elternhaus eingezogen.
Zum anderen stört es sie, dass es in der Gesellschaft – und besonders auch in der Politik – immer mehr ums Gewinnen gehe als um Lösungen. Sie sei schon immer wieder „überrascht, dass es auf kommunaler Ebene auch so ist“, sagt Schmitt-Thiel. Dabei seien eigentlich im Münchner Stadtrat viele Stellschrauben schon gezogen, die Druck herausnehmen. So handle es sich etwa nicht um ein Abendparlament, die Sitzungen finden tagsüber statt.
In Zukunft will Julia Post öfter nein zu Terminanfragen sagen
Dass bei der Kommunalwahl 2020 viele Eltern mit noch kleinen Kindern in den Stadtrat gewählt wurden, habe zudem zu einer echten Veränderung geführt, zusätzlich unterstützt durch die Corona-Pandemie. „Ab 16 Uhr muss sich bei uns in der Fraktion niemand erklären, warum er nur noch online bei Terminen dabei ist“, sagt Schmitt-Thiel. Der Druck, um jeden Preis präsent sein zu müssen, falle also weg – eine echte Verbesserung, wie sie findet.
Was bleibt, sei etwa der Druck von Medien, Stellung zu nehmen, schnell eine Meinung zu formulieren. Mitunter sei die Erwartungshaltung der Zivilgesellschaft an Stadträtinnen und Stadträte schon auch sehr hoch. Vielleicht, sagt Schmitt-Thiel, müsse ja nicht immer ein Mandatsträger einen Termin wahrnehmen. Es gebe in der Partei auch andere tolle Fachleute. Letztlich sei das Amt als Stadträtin aber ein „fantastischer Job“, den sie noch mal machen wolle.
Julia Post will in Zukunft einiges anders machen. Termine stärker hinterfragen. Pausen machen. Und überlegen, wie es anders gehen könnte in der Politik. Sie habe darauf noch keine Antwort, sagt sie am Telefon, „aber ich will mich auf die Reise machen“. Sie könne sich vorstellen, ein Netzwerk zu gründen, um Ideen zu sammeln und zu teilen. Denn: „Gemeckert ist schnell, wir müssen uns an die Arbeit machen.“ Wobei man da schnell bei der Frage wäre: Noch ein Netzwerk? Noch eine Signal-Gruppe? Noch eine Verpflichtung?
Es ist kompliziert. Aber sie fühlt sich gestärkt durch die Resonanz auf ihren Beitrag. Sie habe zunächst gezögert, ihn zu veröffentlichen – da war die Sorge, als die überforderte Mutter zu gelten. Doch dann kamen jede Menge zustimmende Rückmeldungen. So, wie es ist, das findet offenbar nicht nur sie, so kann es nicht bleiben.