Warum jetzt die Zeit für (Soziale) Innovationen gekommen ist
Vor wenigen Tagen erst haben in München Grüne und SPD ihren Koalitionsvertrag unterzeichnet. 38 Seiten voller Pläne und Visionen. „Ja, in genau so einer Stadt will ich leben“, habe ich mir beim Durchlesen immer wieder gedacht. Ich sehe mich bereits über den Boulevard Sonnenstraße flanieren. Kraft der Initiative Münchner Mindestlohn habe ich das gute Gefühl, dass endlich alle Menschen von ihrem Gehalt in dieser Stadt leben können. Dank der klimaneutralen Stadt, die konsequent auf nachhaltige Beschaffung setzt und sozial-ökologisches Wirtschaften fördert, geht von München kein Schaden für die Welt aus.
Politischer Wille da — Geld weg
Seit der Kommunalwahl am 15. März ist nun endlich der politische Wille für all diese und noch mehr Zukunftsprojekte da. Nun wird wohl, ausgerechnet in einer Stadt wie München, das Geld fehlen. Wiesn abgesagt, Gastronomie und Hotellerie nach wie vor dicht und der Umsatz in den Geschäften läuft nun, nach Wochen des lockdowns, erst wieder an. München lebt von seinen Gewerbesteuereinnahmen. Auch unsere Stadt trifft die Corona-Krise hart. „Deutlich verringerter finanzieller Gestaltungsspielraum“, nannte es Oberbürgermeister Dieter Reiter bei der konstituierenden Sitzung des Stadtrats am Montag im Deutschen Theater.
„So richtig und wichtig viele der Pläne sind, bleiben diese also zunächst nicht mehr als vage Absichtserklärungen. Was wirklich kommt? Unklar. Denn: Die Stadt wird mächtig sparen müssen. Und im Mai, wenn der Sparplan des Kämmerers vorliegt, Farbe bekennen. Was man unbedingt will. Und was doch hinten runter fällt“, kommentierte es Rathausreporterin Emily Engels in der Abendzeitung.
Corona-Krise als Brennglas
Gleichzeitig treten aber auch die Probleme, die bereits vor der Corona-Krise existierten, noch deutlicher hervor. Allen voran die Ungerechtigkeit in unserem Bildungssystem: Durch Homeschooling in einem Haushalt mit Akademiker*innen dürfte vieles deutlich besser abgefedert werden können, als in einem bildungsfernen Umfeld. Das beginnt leider auch schon beim Equipment wie einem eigenen Laptop oder einem Drucker, um den Lernstoff überhaupt bearbeiten zu können. Auch eine gesunde Ernährung ist dort nicht selbstverständlich. Wenn das Geld überhaupt für ein warmes Mittagessen reicht. Oder die Situation von Alleinerziehenden: Niemand, der mit anpacken kann und bei Kinderbespaßung, Homeschooling und Geld verdienen ganz handfest zur Seite steht. Frauen, die im eigenen zu Hause alles andere als sicher sind. Obdachlose, die bei dem #WirBleibenZuHause gar nicht erst mitmachen können. Die Liste ließe sich fortführen…
Sparen löst keine gesellschaftlichen Probleme. Besser: Klug investieren.
Mein politischer Wille ist bei dieser Lage ungebrochen, nicht einfach immer nur mit Sofortmaßnahmen Feuerwehr zu spielen, also nur dann ad hoc tätig zu werden, wenn mal wieder ein akuter Brandherd ausgebrochen ist. Sondern vielmehr mittel- bis langfristig für wirksame Prävention und klare Perspektiven für die Betroffenen zu sorgen: Bildungsungerechtigkeit gar nicht erst aufkommen lassen. Gesunde Ernährung für alle zugänglich machen. Alleinerziehenden gar nicht erst in prekäre Situationen bringen, bspw. durch ausreichende Angebote an Kinderbetreuung oder eine faire Besteuerung, die Familien fördert und nicht einfach nur die Ehe. Frauenhäuser finanziell und personell besser ausstatten. Obdachlose nicht verdrängen, sondern Wohnraum schaffen und für sie da sein („housing first“). Dafür braucht es teilweise geänderte Rahmenbedingungen beim Bund, aber auch (finanzielle) Unterstützung auf kommunaler Ebene. Auch in München. Ich sehe bei all dem kein Einsparpotenzial. In was für einer Gesellschaft wollen wir denn leben? Wie wollen wir unsere „neue Normalität“ gestalten?
Die Zeit für (Soziale) Innovationen ist jetzt
Wo ich aber Potenzial sehe, ist die Art und Weise unserer Problemlösung. Wie wir den verbliebenen finanziellen Gestaltungsspielraum wahrnehmen. Ein wesentlicher Lösungsbaustein lautet für mich Soziale Innovationen: Hier sollen nicht einfach nur Symptome gelindert werden. Sie beheben die Ursachen, die zur Entstehung des Problems geführt haben. Um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen:
- KARUNA e.V., Hilfe für Straßenkinder. Das Programm begleitet die Jugendlichen durch eine Lebenskrise hindurch, die sich nicht manifestieren sollte.
- Ackerdemia e.V. befähigt Kinder, die Natur zu verstehen und ein Bewusstsein für Lebensmittel zu entwickeln
- Die Digitale Helden gGmbH befähigt Jugendliche, sich bei Cybermobbing und Konflikten im Internet gegenseitig zu unterstützen
- Apeiros unterstützt Schulen und Jugendämter dabei, Schulverweiger*innen in die Schule zurückzuführen
- Serlo Education ist so etwas wie ein „Wikipedia des Lernens“ und baut Bildungsungerechtigkeit ab, indem es neue Lernmittel und -methoden etabliert
- Balu und Du, ein Mentoringprogramm für Grundschulkinder: Junge, engagierte Leute übernehmen ehrenamtlich mindestens ein Jahr lang eine individuelle Patenschaft für ein Kind. Sie helfen ihm durch persönliche Zugewandtheit und aktive Freizeitgestaltung, sich in unserer Gesellschaft zu entwickeln und zu lernen, wie man die Herausforderungen des Alltags erfolgreich meistern kann. Die Wirkung: Die Folgen sozialer Ungleichheit werden deutlich reduziert. Die Wahrscheinlichkeit, aufs Gymnasium zu kommen, ist bei den Grundschulkindern bspw. um 11 % höher als bei Kindern aus dem selben sozioökonomischen Status ohne Mentor*in.
Eine Studie von Ashoka und McKinsey aus dem Jahr 2019 hat aufgezeigt, dass in den deutschen Sozialunternehmen ein Milliardenpotenzial steckt. Von ihrer Wirkung, von ihrem Output her gedacht. Dem steht ein relativ geringer finanzieller Einsatz gegenüber, da in der Regel der Investitionsaufwand zu Beginn niedrig ist — insbesondere im Gegensatz zu technischen Innovationen. Das sollten wir nutzen.
Nur zwei der oben aufgeführten Beispiele nochmal mit Zahlen unterlegt: Kosten von 5 Millionen Euro bei dem Programm Apeiros stehen jährlich 900 Millionen Euro vermiedene Kosten in der Jugendhilfe für die Betreuung von Schulverweiger*innen gegenüber, heißt es in der Studie. Bei Balu und Du liegt der Social Return on Investment (Sozialrendite) bei mindestens 425 % der ursprünglichen Investition: 1 € der in das Programm investiert wird, bringt mindestens 4,25 € zurück. Im Optimalfall liegt dieser Wert sogar bei 8,08 €. Diese Sozialrendite kommt u.a. durch den höheren Bildungsgrad der Grundschulkinder im Mentoringprogramm zustande. Dieser führt zu besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt, dadurch zu Einsparungen durch weniger Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe bei gleichzeitig mehr Steuereinnahmen durch höhere Einkommen.
Ergänzung. Kein Allheilmittel.
Zugegeben: Mit sozialen Innovationen werden wir keine neuen Wohnungen bauen. Dafür braucht es selbstverständlich weiterhin schlichtweg Geld. Wir können aber mit Sozialen Innovationen wie Projekten à la Wohnen für Hilfe oder Tausche Bildung für Wohnenbereits vorhanden Wohnraum intelligent nutzen und damit sogar noch einen Mehrwert (Zusammenleben der Generationen, Bildungspatenschaften oder das Entgegenwirken von Gettoisierung bestimmter Stadtteile), eine Win-Win-Win-Situation schaffen. So können wir für vieles, was wir als Kommune nicht leisten müssen, aber wollen, uns dieser kreativen Lösungsansätze bedienen und damit gleichzeitig unsere politischen Ziele weiterverfolgen. Auch unter einer kritischen Haushaltslage. Es handelt sich bei unseren „richtigen und wichtigen“ Plänen in vielen Bereichen um freiwillige Maßnahmen einer Kommune (wie beispielsweise die Förderung von Foodsharing, ein Suchtpräventionsprogramm oder ein neues Jugendkulturzentrum). Es geht hier also um das „mehr“, das wir über die reinen Pflichtaufgaben* hinausgehend wollen. Ich verstehe Soziale Innovationen dabei als sinnvolle Ergänzung. Sie sind kein Allheilmittel für alles. Als Ergänzung können sie aber wesentlich dazu beitragen, dass München sein Herz behält. Und vielleicht sogar noch ein bisschen mehr an Herz hinzugewinnt. Ein weiteres Plus: Mit neuen sozial-ökologischen Geschäftsideen können sogar auch wieder neue Einnahmequellen an Gewerbesteuer entstehen. Ein öko-soziales Konjunkturprogramm also.
* Zu den Pflichtaufgaben zählen zum Beispiel die Trinkwasserversorgung oder die Abfallentsorgung. Erst wenn diese Pflichtaufgaben, die die Rechtsordnung vorgibt, erfüllt sind, darf eine Kommune im eigenen Ermessen zusätzliche freiwillige Aufgaben finanzieren.
Evidenzbasierte Förderpolitik on top
Damit verbunden ist für mich noch etwas: Eine evidenzbasierte Förderpolitik. Statt einer bunten Blumenwiese an gut gemeinter Hilfen, schlage ich vor, dass wir vornehmlich Programme unterstützen, die zum guten Ansinnen hinzukommend ihre gesellschaftliche Wirkung auch nachweisen können. Denn auch das muss Bestandteil des Haushaltens sein: Überprüfen, welche Wirkung das investierte Geld entfaltet. Die Wirkungsorientierung unserer Entscheidungen und unseres Handelns sollte im Vordergrund stehen. Diesen Blick dürfen wir nicht nur auf Programme anwenden, sondern müssen ihn zusätzlich in die Politik und in die Verwaltung hineintragen. So können wir auch unsere eigenen Prozesse konstruktiv-kritisch hinterfragen. Und mit Sicherheit auch Kosten einsparen.
All das gilt für München. Aber nicht nur hier. All das gilt in der Krise. Aber nicht nur jetzt.